Empirische
Grundlagen

Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen, Erlebnisse und Aktivitäten, Gedanken und Erinnerungen werden seit jeher erzählt, vorgeführt und weitergegeben. Diese immateriellen Elemente prägen uns Menschen, unsere Geschichte und Geschichten auf vielfältige Weise und finden ihren Niederschlag in Bräuchen, Traditionen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten. Immaterielles Kulturerbe (IKE) lebt von seiner fortwährenden Weitergabe von Mensch zu Mensch; es ist gekennzeichnet durch vielfältige Ausprägungen und stetige Veränderungen. Seit 2003 steht der Schutz des Immateriellen Kulturerbes auf der Agenda der UNESCO.

Für Museen bilden materielles und immaterielles Kultur- und Naturerbe die Grundlage ihrer Arbeit. Dabei stehen in der Museumspraxis vor allem die physischen Objekte im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zugleich werden Objekte aber auch als Repräsentanten der nicht dinglichen und flüchtigen kulturellen Ausdrucksformen gesammelt, dokumentiert, interpretiert und ausgestellt.

Die Beziehung zwischen IKE und der Museumspraxis ist dabei nicht immer spannungsfrei, da hier aus sehr verschiedenen Richtungen auf das kulturelle Erbe geblickt wird. Trotz der gemeinsamen Schnittmengen unterscheiden sich die Praxis des IKE und der Umgang mit den immateriellen Dimensionen von Objekten im Museum sehr stark voneinander. Im Bereich der Weitergabe und Vermittlung von Wissen tritt dieser Unterschied besonders stark zutage. IKE innerhalb einer Community of Practice weiterzugeben ist etwas anderes, als IKE museal zu vermitteln – bezogen auf Wissensebenen, Erfahrungsräume, beteiligte Personen sowie Ziele und Ergebnisse des Wissenstransfers.

Schon immer werden im Museum audiovisuelle Medien – wie zum Beispiel Zeichnungen, Film-, Foto- und Tonaufnahmen – genutzt, um immaterielle Aspekte von Museumsobjekten wie Praktiken, Wissen und Fertigkeiten zu dokumentieren und zu vermitteln. Digitale Technologien und Social Media haben dazu geführt, dass Museumsarbeit – also das Sammeln, Erforschen, Dokumentieren, Erhalten und Kommunizieren (inklusive Ausstellen und Vermitteln) von materiellem und immateriellem Kulturerbe – mittlerweile auch unabhängig von einer konkreten Verortung in Raum und Zeit weitergedacht und weiterentwickelt werden kann. Sie unterstützen die Kontaktaufnahme und den Austausch zwischen dem Museum, seinen Publika und den Communities of Practice und ermöglichen zugleich eine bessere Verbreitung sowie einen leichteren Zugang zu Informationen.

Diese technischen Entwicklungen im Digitalen vervielfältigen auch die Palette der Vermittlungsangebote und erlauben es den Museen, ihren Handlungsradius weiter auszubauen. Digitale Anwendungen können entweder im Museum zur Verfügung stehen, aber auch am heimischen PC oder ortsungebunden auf dem Smartphone genutzt werden. Im Gegensatz zu den klassischen Medien bewahren und übermitteln sie nicht nur Informationen. Sie erleichtern darüber hinaus auch den Austausch und die weitere Anreicherung mit Daten. Aus den Funktionen des Social Web – wie zum Beispiel Kommentar, Chat, (Live-)Streams etc. – entstehen laufend innovative Formate, die neue Formen der Kommunikation, Interaktion und Vernetzung zwischen Museen, ihren Publika und den Communities of Practice sowie der Dokumentation und Wissensgenerierung ermöglichen. Welche Rolle also digitale Formate bei der Vermittlung von IKE in Museen spielen, welche Wirkung sie entfalten und welche Potenziale sie auch für die Communities of Practice des IKE bergen, sind deshalb wichtige Fragen, die wir gerade erst beginnen zu bearbeiten. Denn digitale Vermittlungsangebote verändern nicht nur den Handlungsradius, sondern auch die Aktionsmodi und Rollenverständnisse der Museen in Bezug auf die Weitergabe und Weiterentwicklung von IKE: weg von einem rein konservatorisch-vermittelnden Rollenbild und hin zu einem Selbstverständnis als partizipative und kommunikative (Mit-)Gestalter von IKE.

Die Studie des Teilprojektes „Materialisierung des Immateriellen?“ geht der Frage nach, inwiefern digitale Formate einerseits einen Beitrag zur Bewahrung, Weitergabe und Vermittlung des IKE leisten, dieses andererseits aber auch weiterentwickeln können. Sie erörtert zunächst die Beziehung zwischen IKE und Museum mit speziellem Fokus auf museale Vermittlung und Weitergabe von IKE. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den Aspekten Interaktion und Partizipation zu, da sie zum einen für das IKE essenziell sind und zum anderen für die Museen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Zugleich stehen digitale Technologien und die Nutzung des Social Web im Fokus, da sie zusätzliche Impulse und Werkzeuge für die moderne Museumsarbeit liefern. Untersucht wird die Bandbreite an Möglichkeiten und Formaten, um IKE digital im Museum zu vermitteln, und welche Schwierigkeiten und Grenzen sich dabei ergeben.

Die Studie stellt eine erste Bestandsaufnahme dar. Die gesammelten Daten geben Einblicke in den Status quo der digitalen Vermittlung von IKE in Museen und in die Erfahrungen und Einschätzungen der Museumsmitarbeitenden hinsichtlich der Rolle von IKE im Museum. Neben einer standardisierten Befragung des Samples von 101 Museen basiert die Studie auf der Anreicherung der gesammelten Daten durch Tiefeninterviews in vier ausgewählten Häusern. Während es bei der Befragung der 101 Museen in erster Linie darum ging, einen Überblick über die bereits eingesetzten Anwendungen, ihre Schwerpunkte, Bezüge zum IKE und ihr Innovationspotenzial zu bekommen, fokussierten die Tiefeninterviews stärker auf die Funktions- und Wirkweisen der digitalen Angebote.

Tabelle 1: Befragte Museen nach Museumsarten (n = 101, in %)

Museumsarten 
Museen mit Schwerpunkt Orts- und Regionalgeschichte/Europäische Ethnologie12,9 %
Kunstmuseen6,9 %
Schloss-/Burgmuseen0 %
Naturkundliche Museen5 %
Naturwissenschaftliche und technische Museen7,9 %
Historische und archäologische Museen1 %
Sammelmuseen mit komplexen Beständen2 %
Kulturgeschichtliche Spezialmuseen64,4 %

Tabelle 2: Welche IKE-Bereiche werden durch die digitalen Anwendungen vermittelt? (n = 101, in %, Mehrfachnennungen möglich)

IKE-Bereiche 
mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen (inkl. Sprache, Literatur, Ideengeschichte)28,7 %
darstellende Künste wie Musik, Tanz und Theater21,8 %
gesellschaftliche Bräuche, soziale Praktiken, Rituale und Feste20,8 %
Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum (inkl. Stadtkultur)13,9 %
Fachwissen über traditionelle Handwerkstechniken (inkl. Industriekultur)38,6 %
Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation12,9 %

Das untersuchte Sample von 101 Museen ist nicht repräsentativ für die Strukturen der Museumslandschaft in Deutschland, da zunächst explorativ nach besonders augenfälligen Beispielen für digitale Vermittlung von IKE gesucht wurde, die sich für bestimmte Museumsgattungen und Sammlungstypen leichter erschließen. Das Sample kann jedoch dazu dienen, ein Gefühl für die derzeit bestehenden Schwerpunkte im Bereich der kulturhistorischen Museen zu entwickeln, zugleich aber auch die Lücken zu benennen, wenn es um die aktive Auseinandersetzung mit (der digitalen Vermittlung von) IKE in der deutschen Museumslandschaft geht. Die gesammelten Informationen sollen darüber hinaus anderen Museen als Inspiration und Orientierung dienen, Denk- und Handlungsräume zu erweitern und das Immaterielle als einen wesentlichen Teil der Museumsarbeit zu verstehen und zu behandeln.

Grafik 1: Welche digitale Anwendung wurde für die Vermittlung des IKE gewählt? 
(n = 101, in %, Mehrfachnennungen möglich)

 

welche-digitale-Anwendung.svgwelche-digitale-Anwendung_mobil.svg

Wie zu erwarten, bestätigte die Befragung unsere Vermutung, dass bereits eine große Bandbreite an digitalen Anwendungen für die Vermittlung von IKE zum Einsatz kommt. Diese Vielfalt können wir drei Anwendungsbereichen zuordnen: 1. Anwendungen wie Medienguides oder Medienstationen, die im Museum oder mit räumlichem Bezugspunkt zum Museum eingesetzt werden. 2. Anwendungen, die online und auch außerhalb des Museums benutzt werden können. 3. Anwendungen, die gezielt bereits bestehende Social-Media-Plattformen nutzen. Auffallend ist, dass die Vielfalt der Anwendungen im Bereich 2 besonders ausgeprägt ist.

Der Löwenanteil der derzeit genutzten Anwendungen (62 %) hat nach wie vor einen direkten räumlichen Bezug zum Museum. Knapp die Hälfte der Anwendungen (42 %) ist online zugänglich und kann auch unabhängig vom Museum genutzt werden. Die Nutzung von Social-Media-Plattformen für die digitale Vermittlung von IKE ist derzeit gering ausgeprägt (6 %).

Grafik 2: Welche Vermittlungsansätze liegen Ihrer digitalen Anwendung zu Grunde? 
(n = 101, in %, Mehrfachnennungen möglich)

 

welcher-vermittlungsansatz.svgwelcher-vermittlungsansatz_mobil.svg

 

Gefragt wurde nach den Vermittlungsansätzen, wie sie im Verbundprojekt als Kategorien verwendet wurden.

Wie zu vermuten war, zeigen die Untersuchungen, dass Narration und Storytelling mittlerweile standardmäßig bei mehr als zwei Dritteln der untersuchten Angebote (67,3 %) angewendet werden. Mit etwas Abstand folgen die stärker emotional wirkende Immersion (47,5 %) sowie die explorative Visualisierung (41,6 %), welche das Nutzer*inneninteresse stärker berücksichtigt.

Ansätze, die im engeren Sinne Nutzer*innen mit einbeziehen wie zum Beispiel Formate mit Interaktion (19,8 %) und Partizipation/genuiner Beteiligung (16,8 %), sind noch nicht so weit verbreitet. Beispiele hierfür sind persönliche Interaktion, die bei der gemeinsamen Nutzung der Anwendung vor Ort oder auch durch den Austausch über Chat- und Kommentarfunktionen entstehen. Ebenfalls gemeint sein kann die Beteiligung von IKE-Akteur*innen oder/und Nutzer*innen in der Entwicklungsphase sowie bei der Benutzung der Anwendung.

Grafik 3: Welche Vermittlungsziele wollten Sie mit der Anwendung erreichen? 
(n = 101, in %, Mehrfachnennungen möglich)

 

welche-vermittlungsziele.svgwelche-vermittlungsziele_mobil.svg

Die Ergebnisse zeigen, dass Verstehen als Vermittlungsziel der Museen mit Abstand die größte Rolle zukommt (80,2 %). Mit etwas Abstand folgen Erfahren (59,4 %) und Nacherleben (58,4 %) mit einer stärkeren emotionalen bzw. körperlichen Dimension.

Die Weitergabe unter IKE-Akteur*innen (37,6 %) sowie die Aktivierung von Menschen, die bislang IKE nicht praktiziert haben (32,7 %), stehen bei den Vermittlungszielen bisher weniger im Mittelpunkt.